Die grüne Höhle

    Der kleine Ort Berenstein liegt am Fuße des Gebirges und ist umrahmt von sanften bewaldeten Hügeln. Hier wohnen Roman und seine 2 Jahre jüngere Schwester Mara in einem alten Fachwerkhaus zusammen mit ihrer Mam und Ihrem Dad und den Großeltern. Wenn der Großvater abends seinen dritten Schnaps geschnasselt hatte, was doch recht selten vorkam, wurde er redselig. So erzählte er einmal von der grünen Höhle, die sich ganz in der Nähe von Berenstein befinden soll. Roman und Mara hörten genau zu. Sie liebten es, wenn der Großvater mit seiner tiefen Stimme zu erzählen anfing.

    „So genau kann aber niemand sagen, wo sich die Höhle befindet, denn die wenigen, die den Mut hatten, nach ihrem Eingang zu suchen, kamen nie zurück. Das war schon ein wenig gruselig, denn man fragte sich sofort, wo sind sie geblieben? Und warum heißt sie eigentlich grüne Höhle?“ Der Großvater lächelte: „Nun einer hat es wohl doch geschafft, zurück zu kommen und erzählte, dass die Höhle innen grün leuchten soll. Doch dann ist auch er vor Erschöpfung gestorben, ehe man noch mehr in Erfahrung bringen konnte“. Der alte Mann schnalzte mit der Zunge und genehmigte sich noch einen Schnaps.

    Das Gehörte ließ die beiden Kinder nicht los. Roman sagte zu seiner Schwester: „Wenn man sich richtig vorbereitet und die richtige Ausrüstung dabei hat, kann es doch nicht so schwierig sein, die Höhle zu erkunden?“ Mara nickte zustimmend. Tage und Wochen vergingen. Roman hatte herausgefunden, in welche Richtung man gehen muss, um zum Höhleneingang zu gelangen. Ganz so unbekannt war der Weg wohl doch nicht. Mittlerweile war es Sommer geworden. Die Luft waberte vor Hitze.

    Ein paar hundert Meter in der Höhe im Wald war es dagegen sehr angenehm. So beschlossen die Geschwister an einem Samstag, nach der grünen Höhle zu suchen. Sie packten jeder einen Rucksack mit Seil, einen Kompass, einer Flurkarte, etwas zu knabbern, ein Getränk und eine Taschenlampe mit Reservebatterien. Und natürlich hatten sie ihre Handys dabei. So meinten sie, gut gerüstet zu sein. In der Früh gingen sie los und hinterließen einen Zettel mit dem Hinweis, dass sie einen Tagesausflug im Wald machen wollen. Das ist das einzig Richtige bei der Hitze.

    Bei den Temperaturen im Wald kamen die Beiden zügig voran. Roman mit seinen 13 Jahren konnte gut mit Kompass und Karte umgehen, und so war er sich sicher, auf dem richtigen Weg zu sein. Für Mara sah der Wald überall gleich aus, es gab keinen Hinweis zu einer Höhle und dann noch zu einer grün leuchtenden. Sie musste innerlich lächeln, denn sie glaubte nicht so recht an diese Geschichte. Aber sie war gern mit ihrem Bruder zusammen und trottete brav hinter ihm her. Langsam veränderte sich die Landschaft, immer größere Felsbrocken säumten ihren Weg. Und dann führte ihr Weg durch eine Schlucht. Rechts leitete sie der Weg an einem Bach entlang, links hinter vielen Büschen und dichtem Unterholz türmte sich eine Felswand auf.

    Plötzlich sagte Mara: „Schau mal dort oben, ist das nicht ein Höhleneingang?“ Die Büsche, die vor den Felsen wuchsen, hatten an einer Stelle einen Durchgang. Roman schaute in die Richtung und nickte zustimmend. Er fand auch schnell einen Weg nach oben. Dann standen sie vor dem Eingang. Das Loch im Fels war ungefähr 5 Meter breit und 3 Meter hoch. Aber nach wenigen Schritten hinein verengte sich alles auf einen schmalen Gang, der die Dunkelheit eingefangen hatte.

    Die Beiden holten ihre Taschenlampen heraus und Roman band das Seil um einen Felsblock. Er wollte sichergehen, dass sie auch wieder hinausfanden. Dann gingen sie hinein in die unbekannte Dunkelheit, begleitet von den Lichtkegeln ihrer Taschenlampen. Sie mussten aufpassen, denn der Weg war nicht eben, immer wieder ragten Steine in den Gang. Auch waren die Seitenwände des Ganges nicht glatt, sondern so, wie die Natur und wahrscheinlich Wasser sie vor sehr langer Zeit geformt hatten.

    Roman ging durch den Kopf, woher wussten sie, dass es auch die grüne Höhle war? Von der Farbe Grün hatte er hier drinnen noch nichts gesehen. Und die Büsche vor dem Eingang haben bestimmt nichts mit dem Namen zu tun. Das Seil, eigentlich nur eine 1 Millimeter dicke Schnur von 100 Meter Länge, war aufgebraucht. Also waren sie schon so weit in die Höhle vorgedrungen. Sie verknüpften das zweite Seil mit diesem und weiter ging es. Der Gang weitete sich zu einer großen Halle, wo der Lichtkegel ihrer Lampen nicht bis zur gegenüberliegenden Felswand reichte. Sie gingen vorsichtig weiter und hatten dann die Wahl zwischen 3 Gängen. Sie schauten sich an, und es war klar, sie nahmen den mittleren Gang.

    Nach einer Weile gab es plötzlich einen Ruck, das Seil war zu Ende. Mara musste über das Gesicht ihres Bruders lächeln. Er sah richtig zerknirscht aus. Sie kramte in ihrem Rucksack und holte ein Stück Schulkreide heraus. „Schau nur, damit können wir den weiteren Weg markieren.“ Romans Laune verbesserte sich schlagartig. „Superschwester, du denkst doch an alles.“ Er legte die Hand auf die Felswand ihres Ganges, sie war trocken. Dann malte er einen Pfeil mit der Kreide auf ein Stück glatten Fels. Ihr Weg war keineswegs geradlinig, aber sie hatten nie das Gefühl, dass sie wieder zurück-gingen. Langsam wurden sie müde und sie machten eine Pause. Eine Taschenlampe hatte bereits ihren Geist aufgegeben und verlangte nach den Ersatzbatterien.

    Mara fragte: „Wie weit wollen wir denn noch laufen? Es macht mir keinen Spaß mehr.“ Roman überlegte. Im Grund ging es ihm genauso. Wer weiß, in welcher Höhle sie herumliefen. Die grüne Höhle war es jedenfalls nicht, nichts deutete darauf hin. Sie liefen weiter hinein. Die zweite Lampe verlangte nach neuen Batterien und dann war auch die Kreide verbraucht. Sie beschlossen umzukehren. Mara sah zu ihrem Bruder und gab sich einen Ruck. Sie hatte noch zweimal Batterien für die Lampen. Jetzt umzukehren und nichts erreicht zu haben, war doch richtig blöd. „Lass uns den Gang noch bis zur nächsten Verzweigung gehen, und dann kehren wir um. Vielleicht finden wir doch noch etwas.“ Ihr Bruder sah sie an und nickte. Was hatte er doch für eine tolle Schwester.

    Sie liefen wieder los und mussten sich bücken. Der Gang wurde immer niedriger. Wenn das so weiter geht, hat sich ihr Abenteuer sowieso erledigt. Denn auf Knien wollte er nicht weiterrutschen. Die gebückte Haltung raubte ihnen die Kräfte und sie mussten verschnaufen. Sie wechselten wieder die Batterien der Taschenlampen. Roman wollte gerade die Umkehr verkünden, da sah er in den Augenwinkeln einen sanften, schwach leuchtenden grünen Punkt am Boden. Was war das? Ein Glühwürmchen, oder eine selbst leuchtende Pflanze? „Mara, sieh doch“. Er ging darauf zu und es verschwand. „Komm, wir machen die Lampen aus, vielleicht sehen wir dann wieder etwas leuchten“. Auch nach dem sich die Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, blieb es rabenschwarz um sie herum.

    „Wer weiß, was das war“, sagte Mara resigniert. „Wir kehren jetzt um, ok?“ Doch in diesem Moment fing erst ein grüner Punkt an zu leuchten, dann ein weiterer und so fort. Als wenn sie ihnen den Weg weisen wollten, waren sie wie auf einer Perlenkette aufgereiht. Magisch zog es sie weiter. Der Abstand zwischen den Lichtpunkten wurde immer kürzer und bald war das grüne Licht so stark, dass sie die Taschenlampen ausmachen konnten. Dann öffnete sich plötzlich eine Halle vor ihnen. Die Wände und die Decke wichen zurück, so dass sie sie nicht mehr sehen konnten. Die grüne Perlenkette führte sie geradewegs weiter mitten in die Halle hinein und hörte dann abrupt auf.

    Roman fragte Mara: „Sag mal, das ist doch nicht normal, nichts Natürliches, so eine gerade Linie mit grün leuchtenden Punkten? Das hat doch jemand installiert?“ Mara nickte. Ihr kam das schon ein wenig unheimlich vor, aber andererseits beruhigte sie das grüne Licht. Sie ging auf die Knie und tastete nach einem grünen Punkt. Aber da war nichts zu fühlen. Es war, als ob der Fels selbst leuchtete.

    Ihre Stimme zitterte: „Roman, fühl mal, das ist schon sehr sehr merkwürdig“. Er bückte sich ebenfalls und runzelte die Stirn. „Ja, schon merkwürdig“. Sie gingen den beleuchteten Weg bis zum Ende und standen vor einem gewaltigen Stalagmiten. Dort, wo er aus dem Boden herausragte, hörten die grünen Punkte auf zu leuchten. Vorsichtig gingen sie um den Stalagmiten herum. Nur aus der Richtung, aus der sie gekommen waren, leuchtete der Boden im grünen Licht. Alles andere in dieser Höhle blieb im Dunkeln. Roman dachte, wenn es hier Stalagmiten gab, handelte es sich um eine Tropfsteinhöhle und deshalb musste es auch die von der Decke der Höhle herunter hängenden Stalagtiten geben. Er hatte erst kürzlich darüber gelesen und sich die Fotos dazu angesehen. Aber hier gab es nur diesen einen zylindrischen Stein, der sich in der Höhe verjüngte und die typische Oberfläche eines Stalagmiten hatte. Das war schon alles sehr seltsam.

    Roman tastete den Stein ab, konnte aber nichts entdecken, was ihnen weiter half oder wenigstens eine Erklärung lieferte. Sein Kopf war voller Fragen, vor allem die nach dem Warum. Wer hat das installiert und zu welchem Zweck? Ratlos blickte er auf die grün schimmernden Punkte. Mara fühlte ebenfalls die Fläche des Steins mit ihren Händen und legte die Stirn an den kühlen Fels. Wie vom Blitz getroffen, zuckte sie zurück. Sie stand da mit offenem Mund und blickte zu ihrem Bruder. Stotternd bat sie ihn, ebenfalls mit dem Kopf den Stein zu berühren. Roman folgte ihrer Bitte und hatte dabei ein flaues Gefühl im Magen.

    Langsam legte er seine Stirn an den Fels. Ganz hell wurde es um ihn herum, grell leuchtendes Grün kam auf ihn zu, so dass auch er zurück zuckte. Was war das? Vorsichtig berührte er wieder mit der Stirn den Fels. Er war innerlich so angespannt, dass er diesmal die Verbindung hielt und nur staunen konnte. Er war nicht mehr in der dunklen Höhle sondern im Freien. Von dem grünen Licht umgeben, flog er nach oben zu den Wolken und wurde immer schneller. Die Wolken lagen unter ihm und alles verschwamm um ihn herum. Er bemerkte einen Stubser in der Seite. Seine Schwester war bei ihm und hatte sich bemerkbar gemacht. Das war gut, dass sie zusammen waren. Ganz kurz hatte er im Hinterkopf den Gedanken, was wohl mit ihr passierte. Aber nun war Roman beruhigt, seine Schwester bei sich zu wissen.

    Das Geschehen nahm die Beiden gefangen. Immer schneller flogen sie von der Erde weg. Die Schwärze des Alls war um sie herum, und zunehmend wurde der blaue Planet kleiner. Maras Wunsch war es schon immer, als Astronautin ins All zu fliegen, aber das hier war ihr viel zu schnell und auch unheimlich. Sie hatten kein Raumschiff, und doch waren sie geschützt vor der Kälte und Leere des Alls. Immer schneller flogen sie, die Sterne waren nur noch schwache Striche, die an ihnen beiden vorbei flogen. Sie sah ihren Bruder an. Ihr Gesicht war ein einziges Fragezeichen. Sie hörte seine Gedanken, als wenn er zu ihr sprechen würde. „Bleib cool, das wird sich alles aufklären“. Und dann hörten sie eine andere Stimme in ihren Köpfen, tief und warm: „Bitte erschreckt nicht. Ihr habt den Weg zu uns gefunden, wir sind sehr froh darüber. Gleich werdet ihr unsere Welt kennen lernen. Habt keine Angst, genießt es“. Dann war es wieder still.

    Roman sah Mara mit großen Augen an und dachte: „Kneif mich mal, ich glaub, ich träume einen ganz verrückten Traum. Was wir hier erleben, glaubt uns kein Mensch“. Seine Schwester nickte zustimmend. Sie wurden zunehmend langsamer und ein grüner Planet kam auf sie zu und wurde immer größer. Er schillerte in allen Grüntönen, zum Horizont mischte sich Blau ins Grün. Roman sah hinter sich auf eine gleißend blaue Sonne. Vielleicht war deshalb alles so grünlich? Sie tauchten wieder in Wolken ein. Schnell kam der Boden näher, bis sie dann weich abgefedert auf ihm standen. Nur Gras war um sie herum, soweit sie sehen konnten. Eigentlich war es hier wie auf der Erde, sie konnten atmen, waren nicht schwerer oder leichter, es wehte ein leichter Wind, der durch das Gras pflügte und es zum Wogen brachte. Es war saftig dunkelgrün, der Himmel war ebenfalls in einen Hauch von Grün getaucht und die Sonne hoch am Himmel leuchtete in einem grellen Hellblau.

    Alles war anders, fremd und doch fühlten sich die beiden Geschwister wohl. Ihre Herzen hatten sich beruhigt und so konnten sie in die friedliche Umgebung voll und ganz eintauchen. Und je länger sie um sich schauten, umso mehr sahen sie kleines Getier zwischen den Gräsern, vertraut und doch anders als zu Hause. Pfeilschnelle Vögel ähnlich den Kolibri verharrten in der Luft und beobachteten sie neugierig. Überall war diese Wiese, sie reichte bis zum Horizont. Kein Baum, kein Strauch, nur dieses Grasland.

    Ein alter Mann mit langem weißem Bart, umhüllt von einer zartgrünen Tunika, kam wie aus dem Nichts auf sie zu. Er sah fast wie ein Mensch aus, sein Kopf war nach hinten länger und bedeckt von weißem Haar, durchzogen von hellgrünen Strähnen. Seine grün strahlenden Augen leuchteten aus einem vom Wetter gegerbten Gesicht heraus, das auch vom Alter zerfurcht war. Er strahlte so viel Güte aus, dass die Kinder keinerlei Berührungsängste hatten.

    So fremd und neu ihnen alles vorkam, so vertraut war es aber auch. „Nun, was sagt ihr? Wie gefällt es euch hier?“ Roman hatte den Alten genau beobachtet. Da, wo normalerweise der Mund sein müsste, der Bart deutete das auch an, hatte sich nichts bewegt, während er zu ihnen sprach. Als ob er seine Gedanken hören konnte, lächelte der alte Mann verschmitzt. „Wir können mit euch die Gedanken austauschen, ohne reden zu müssen.“ “Ihr könnt unsere Gedanken lesen, ohne dass wir das wollen?“ „Nein, wir merken sofort, ob ihr mit uns reden wollt, oder nicht.“ Mara dachte viel einfacher. Wo kommt der Mann her? Wo wohnt er? Gibt es viele von ihm, auch Kinder? „Ja, ihr habt viele Fragen, nur allzu verständlich“, sagte er.

    Er breitete die Arme aus, als ob er die Welt umarmen wollte. Der Horizont veränderte sich. Zur rechten Seite wurden Bäume sichtbar, große, gerade Bäume mit vielen Blättern, links zeigten sich die Umrisse von Gebäuden in blassem Grün. Die große weite Grasfläche wurde kleiner. Immer mehr Details wurden sichtbar, Blumen, überwiegend in den Farben Hellgrün und Gelb und kleine Sträucher, die wie die Wipfel der Bäume aussahen. Wunderschön war es und Roman und Mara staunten mit offenen Mündern.

    Wieder wandte sich der alte Mann an sie. „Ich glaube, ihr habt für heute genug gesehen. Ihr könnt gerne wiederkommen und ich zeige euch mehr von meiner Welt. Aber überlegt euch genau, wem ihr so fest vertraut, dass ihr demjenigen davon erzählen könnt. Menschen mit schlechten Gedanken kommen nicht hierher und können euch nicht glauben.“ Roman wollte gerade etwas dazu sagen, da flogen sie schon wieder weg vom Grasland, vom grünen Planeten und zurück zur Erde. Irgendwie verging die Zeit auf dem Rückweg viele schneller.

    Bald standen sie vor dem Höhleneingang. Dem Sonnenstand zu urteilen, waren sie nur wenige Stunden unterwegs gewesen. Sie liefen zurück nach Hause. „Mara, haben wir das alles nur geträumt? Kann man etwas zusammen im Traum erleben?“ Sie zuckte mit den Schultern. „Der alte Mann war echt. Wir haben mit einem Alien Kontakt gehabt, eindeutig“. Roman musste über ihre Wortwahl innerlich grinsen. Jedenfalls müssen sie unbedingt wieder in die Höhle und dorthin fliegen. Was sie ihren Eltern erzählen sollten, wusste er nicht. Das hatte auch noch Zeit, bis sie mehr wussten über ihr neues Abenteuer.

    Als alle zusammen am Tisch zum Abendbrot saßen, fragte ihre Mutter: „Na, wie war euer Ausflug? Habt ihr viel erlebt?“ Roman und Mara sahen sich an und mussten lachen. „Ja, wir haben eine Menge erlebt, wirklich gewaltig“. Die Mutter freute sich, dass es ihren Kindern Spaß gemacht hat.

© PM 04/2020