Der lesende Hund

    Katrin und Janek waren Geschwister. Katrin war fünf und Janek acht Jahre alt. Sie lebten in dem kleinen Städtchen Bodelmus. Dort lebte es sich wunderbar, die Leute kannten sich alle, grüßten sich am Morgen und hatten Zeit für ein kleines Schwätzchen. Hoch über der Stadt befand sich das Burgschloss der Ritter von Bodelmus. Heute wohnt dort nur noch Edgar, der Hausmeister des Stadtmuseums.

    Die von Bodelmus gab es schon lange nicht mehr. Und nach vielen Jahren des Verfalls hat man sich der Burg angenommen und ein Museum eingerichtet. Seitdem kommen auch immer mal ein paar Touristen, auch aus Japan waren schon welche da. Janek hatte sie gesehen und davon erzählt.

    Aber was viel wichtiger war, seit einiger Zeit soll es in der Burg spuken. Der Meier, Jürgen hat dort nach Mitternacht eine Erscheinung gesehen, wie er sagte. Als er aber merkte, dass ihn die Leute auslachten, erzählte er nichts mehr davon. Katrin und Janek waren natürlich neugierig und hätten zu gerne gewusst, ob es wirklich in der Burg ein Gespenst gab, was nach Mitternacht in Erscheinung trat. So beschlossen sie, bis nach Mitternacht aufzubleiben und zur Burg zu laufen. Bis dorthin war es nicht weit, sie wohnten unterhalb des Burgberges.

    Janek hatte von seinem Taschengeld Batterien gekauft für ihre Taschenlampen. Übermorgen sollte es losgehen. An dem Abend brachte die Mama sie wie immer ins Bett und wünschte eine gute Nacht. Katrin war viel zu aufgeregt, an Schlaf war nicht zu denken. Janek ging in die 2. Klasse und hatte an diesem Tag Sport gehabt. Nachmittags hatte er mit seinen Freunden Fußball gespielt und so war er doch recht müde. Aber Katrin hielt ihn wach. Als die Standuhr unten im Wohnzimmer zwölf mal schlug, wusste er, jetzt war es Mitternacht. Sie zogen sich schnell an und verschwanden aus dem Fenster, denn hinter dem Haus begann schon der Burgberg.

    In der Burg angekommen, stellten sie fest, das alles verschlossen war. Katrin war traurig, denn nun konnten sie doch nicht das Gespenst sehen. Janek beruhigte sie. Er wird am nächsten Tag Edgar besuchen und sehen, ob er nicht unbemerkt ein Kellerfenster öffnen kann. So mussten sie unverrichteter Dinge wieder nach Hause gehen. Keiner hatte etwas bemerkt und sie schliefen auch schnell ein.

    Das mit dem Fenster klappte. Nun war auch Janek aufgeregt und konnte die Nacht nicht schlafen. Wieder nach Mitternacht schlichen sie sich wie Diebe in die Burg und leuchteten mit ihren Taschenlampen. Plötzlich bekamen sie einen riesigen Schreck. In der Bibliothek des Museums saß ein großer Hund. Er sah kurz auf, als er sie bemerkte und schaute dann wieder zum Boden. Jetzt erst sahen Katrin und Janek, dass er vor sich ein aufgeschlagenes Buch hatte und offenbar darin las.

    Ganz sicher war sich Janek, als er sah, das der Hund sich die Pfote leckte, um eine Seite umzublättern. Vor Staunen bekamen sie den Mund nicht zu. Irgendwie war das alles ganz unheimlich, denn es war still, sie hörten außer ihrem Atem nichts.

    Janek hatte sich etwas beruhigt und fasste sich ein Herz. Er ging näher an den lesenden Hund heran und wollte sehen, was er las. Im Taschenlampenlicht konnte er sehen, dass es ein sehr altes Buch war mit alter Schrift und alten Zeichnungen. Schließlich fragte er den Hund, was das für ein Buch ist. Der Hund, der wie ein Schäferhund aussah, blickte in an. Unheimlich war es, denn obwohl kein Geräusch zu hören war, verstand Janek ganz deutlich, dass es ein Zauberbuch sei, mit dem man Türen öffnen kann. Janek schaute Katrin an, ob sie das auch gehört hat. Sie nickte, sah aber ganz weiß aus. Katrin hatte Angst. Langsam fing sie an sich zu fürchten.

    Janek fragte weiter, welche Tür kann man denn damit öffnen? Und obwohl nichts zu hören war, hatte er die Antwort wieder verstanden. Sie war einfach in seinem Kopf. Das musst du selber lesen, das kann ich dir nicht erzählen. Als Janek noch näher heranging, war der Hund plötzlich verschwunden. Wieder bekamen sie einen Schreck. Das war also das Gespenst gewesen. Aber das Buch lag noch da. Vorsichtig beugte sich Janek über das Buch, denn er konnte ja schon lesen. Katrin ging noch in den Kindergarten und kam nächstes Jahr in die Schule. Sie flüsterte: „Nun les doch mal vor, was da steht“. Aber Janek konnte die alte Schrift nicht entziffern. Wir nehmen das Buch einfach mit. Mama muss uns vorlesen, sie kennt die alte Schrift.

    Am nächsten Tag zeigten sie der Mama das Buch, schlugen es an der Stelle auf, wo der Hund gelesen hatte und baten sie, vorzulesen. Mama fragte natürlich, wo sie dieses alte Buch herhätten. Janek konnte ja nun nicht die Wahrheit sagen, das hätte sie ihnen sowieso nicht geglaubt. Also flunkerte er und sagte, von Martins Vater hat er sich das Buch ausgeliehen.

    Mama schaute sich die Seiten genauer an. Dann las sie vor. Es handelte von einem Burgfräulein vor sehr langer Zeit, die auf ihren geliebten Ritter wartete, der auf dem Kreuzzug in Jerusalem war. Sie sprach Zauberformeln, die keiner verstand. Als die Mama diese vorlas, blitzte es kurz in der Zimmerecke auf, so das alle einen riesigen Schreck bekamen. Mama schlug das Buch zu und wunderte sich. So etwas hatte sie noch nicht erlebt. Das war schon sehr unheimlich. Sie sagte zu Janek, dass er das Buch noch heute wieder zurückschaffen soll, so etwas will sie nicht im Haus haben.

    Nun konnte Janek das Buch nicht am helllichten Tag zurück ins Museum bringen. Jeder würde denken, er hat es gestohlen. Also versteckten sie es und warteten die Nacht ab. Wieder schlichen die beiden zur Burg und als sie ankamen, war es gerade Mitternacht. Sie gingen in die Bibliothek. Dort saß der Hund und schien schon auf sie zu warten. Janek hörte im Kopf die Frage: „Na, kannst Du die Zauberformel jetzt vorlesen?“ Ihm fröstelte. Zu unheimlich war das alles.

    Er flüsterte, ja, das kann ich, ich habe der Mama über die Schulter geschaut. Nun, dann lies sie vor. Katrin hielt die Taschenlampe und Janek fuhr mit dem Finger über die aufgeschlagene Seite. Langsam las er die Worte, die sie beide nicht verstanden. Es blitzte wieder, aber diesmal öffnete sich eine Regalwand voller Bücher. In dem milden Licht sahen sie das Burgfräulein stehen, wie es sich an die Balkonbrüstung lehnte.

    Sie drehte sich um und war voller Freude, als sie den Hund sah. Der sprang auf, wedelte mit dem Schwanz und rannte zu ihr. Janek hörte wieder im Kopf die Stimme des Hundes: „Ich danke euch, dass ihr mich zu meiner Herrin gebracht habt.“ Und ihm war, als würde der Hund lächeln. Die Regalwand schloss sich wieder und es wurde dunkel im Raum. Nur die Taschenlampen brachten etwas Licht. Katrin sah die Lücke zwischen den Büchern in der Regalwand und sagte zu Janek, dort musst du das Buch hinstellen. Er stellte es in die Reihe. Und im nächsten Augenblick wusste er nicht mehr, welches dieser vielen alten Bücher das Zauberbuch war.

    Die beiden gingen zurück und schliefen den Rest der Nacht ganz fest. Am nächsten Morgen sagte Janek zu seiner Schwester: „Irgendwann werden wir die Geschichte Mama und Papa erzählen. Aber solange behalten wir das für uns. Versprichst du mir das?“ Katrin sah ihren Bruder an, ihren großen Bruder und nickte. Und seitdem hat man nie wieder etwas von einem Gespenst gehört.

© PM 08/2007