Das Einhorn

    Maximilian, alle nannten ihn Max, war 8 Jahre alt und ging in die zweite Klasse. Er war ein ganz normaler Schüler, nur hatte er ein Problem. Er war viel kleiner als seine Mitschüler, und sie hänselten ihn deswegen sehr oft. Maximilian hatte sich deshalb von allen etwas zurückgezogen und war oft allein. Seine Eltern und seine kleine Schwester Tinchen, die war aber erst 3 Jahre alt, lebten in einem alten kleinen Haus am Ende des Dorfes. Das Dorf hieß Eichwalde.

    Hinter dem Haus war ein Feld und dahinter begann der Wald. Der war so groß, das keiner so richtig sagen konnte, wie groß er denn wirklich war. Max war schon stundenlang einen Weg in eine Richtung gelaufen und hatte den Eindruck, der Wald wurde immer dichter und undurchdringlicher. Etwas unheimlich war es dort, vor allem, wenn man allein war. Aber Maximilian wusste ja, dass es hier keine wilden Tiere gab, die ihm gefährlich werden konnten. Also musste er sich eigentlich keine Gedanken machen, aber unheimlich war es dort schon.

    Wenn man die Straße in Richtung Fredersdorf lief, kam gleich hinter der Biegung das Forsthaus. Der Förster war Maximilians Freund und hieß Koschel, jedenfalls nannten ihn alle so. Würde er eine rote Jacke und rote Hosen anhaben, würde er aussehen wie der Weihnachtsmann. Koschel hatte nämlich einen langen weißen Bart und graue Haare. Früher hatte er auch den Weihnachtsmann am Heiligabend gespielt, aber jetzt schon ein paar Jahre nicht mehr. Die Kinder erkannten ihn an seiner Stimme, und wussten, das Koschel der Weihnachtsmann war. Da machte es ihm keinen Spaß mehr. Max wusste ja, das es den Weihnachtsmann nicht wirklich gab. Darüber hatte er mit Koschel gesprochen und der erzählte ihm dann diese Geschichte. Das musste aber ihr Geheimnis bleiben, denn seine Eltern dachten, er würde noch an den Weihnachtsmann glauben.

    Eines Tages war Maximilian mit Koschel wieder im Wald unterwegs. Der Förster nahm den Jungen gern mit, denn sein Jagdhund Bruno war mittlerweile so alt, dass er nicht mehr lange laufen konnte und lieber im Forsthaus blieb. So hatte er auf seinen Kontrollgängen etwas Abwechslung. Denn der Max war ein aufgeweckter Junge und hatte viele Fragen, auf die er manchmal keine Antwort wusste. Wenn sie dann wieder zurück waren, holte Koschel sein altes Lexikon heraus und war dann richtig stolz, dass er die Antwort gefunden hatte. Er sagte dann immer: “Max, Wissenschaft ist, wenn man weiß, wo es steht.“

    Sie waren schon mehrere Stunden unterwegs und Max wurde langsam müde vom vielen Laufen. Und dem Förster schien es heute auch nicht so richtig gut zu gehen. Er war blass und hatte Husten. „Koschel, wollen wir nicht lieber umkehren?“ Koschel blieb stehen, schaute auf den Jungen und dachte, warum eigentlich nicht. „Gut Max, aber wir gehen den Falkenweg zurück, dort habe ich letztens einen Fuchsbau gesehen, mal schauen, ob die Fehe schon Junge hat.“

    Max war noch nie den Falkenweg gegangen. Ganz dicht war der Wald hier. Viele umgestürzte Bäume lagen zwischen den alten großen Tannen. Sie waren bemoost und dunkel war es dort. Die Sonne stand schon schräg, es war also früher Nachmittag an diesem Frühlingstag. Und obwohl es eigentlich warm war, fröstelte es Max. Er schaute zu Koschel auf und bekam einen Schreck. Der Förster war noch blasser geworden und presste sich die Hand an die Brust. Dann blieb er stehen und rang nach Luft. Schließlich setzte sich Koschel auf einen Baumstamm. Schweiß stand ihm auf der Stirn.

    „Junge, was mache ich bloß? Mir geht es gar nicht gut. Diese Schmerzen in der Brust. Ich glaube, du musst Hilfe holen. Ich schaffe den Weg nicht mehr zurück.“ Max bekam Angst. „Aber Koschel, ich kenne doch den Weg gar nicht.“ „Du musst nur darauf achten, dass du die Sonne immer von links hast. Und soweit ist es nicht mehr.“ Er schaute dem Jungen in die Augen. “Du bist doch schon groß. Du schaffst das ganz locker. Sag deinem Vater, er soll mit dem Jeep herkommen. Er weiß, wo der Falkenweg ist. Und nun beeile dich. Mir geht es wirklich nicht gut. Ich glaube, mein Herz will nicht mehr so richtig schlagen.“

    Maximilian war zum Heulen zumute. Nicht das der Koschel jetzt stirbt. Also rannte er los. Er rannte so schnell, dass er bald keine Luft mehr bekam. Als Max anhielt, schaute er sich um und bekam wieder einen Schreck. Die Sonne schien jetzt von hinten. Also war er gar nicht mehr auf dem richtigen Weg? So ein Mist. Aber das war doch ein Weg! Er lief ein Stück zurück, in der Hoffnung, eine Weggabelung verpasst zu haben, aber an dem war nicht so. Also wieder weiter, immer die Sonne von links behalten. Was mache ich eigentlich, wenn jetzt Wolken kommen? Oder wenn es dunkel wird? Max wurde unsicher. Aber ich muss dem Koschel helfen, der stirbt sonst und ich bin schuld, weil ich nicht rechtzeitig Hilfe holen konnte.

    Max kam auf eine Lichtung. Sie war über und über mit bunten Blumen übersät. So etwas hatte er noch nicht gesehen. Er lief weiter, immer die Sonne an der linken Seite. Am anderen Ende der Lichtung angekommen, sah er schon, hier war der Wald so dicht und dunkel, das an ein Durchkommen nicht zu denken war. Was soll ich nur machen, ich habe mich wohl verlaufen. Denn das hier war nicht mehr der Falkenweg.

    Maximilian verzweifelte. Er sank ins Gras und fing an zu weinen. Eigentlich war er doch noch ein kleiner Junge. Und es war niemand da, der ihm helfen könnte. „Doch, ich werde dir helfen“, sagte eine feine kristallklare Stimme hinter ihm. Max drehte sich um und bekam runde Augen. Ihm stockte der Atem. Das ist doch nicht wahr?

    Ein weißes Pferd mit langer Mähne und langem Schweif stand da in der abendlichen Sonne, inmitten der vielen Blumen. Aber wer hatte zu ihm gesprochen? Das Pferd warf den Kopf zurück und erst jetzt sah Max das lange gewundene Horn auf der Stirn des Pferdes. Halb durchsichtig blitzte es kurz auf in den Sonnenstrahlen. „Ein Einhorn!“ rief er ganz erstaunt. Aber das gibt es doch gar nicht. Oder doch?

    „Max, wir müssen uns beeilen, willst du deinem Freund noch helfen. Ihm geht es sehr schlecht.“ Max war erschüttert. Das Einhorn konnte sprechen und wusste alles von ihm. Aber natürlich können Einhörner sprechen. Im Märchen – aber das ist doch hier kein Märchen. Er war vollkommen durcheinander. Das Einhorn kam zu ihm. „Komm, setz dich auf meinen Rücken, ich bringe dich nach Hause. Max stieg auf und das Einhorn galoppierte los.

    Aber es war gar kein richtiges Rennen. Seine Hufe berührten den Boden kaum und es war so schnell, das die Umgebung regelrecht zerfloss. Dann stand es wieder. „Nun musst du absteigen und den Rest zu Fuß gehen. Ich kann dich leider nicht weiter begleiten.“ Max stieg ab und schaute das Einhorn an. Er war wie verzaubert. Und plötzlich war es nicht mehr da. Er schaute sich um und sah, dass er sich ganz in der Nähe seines Hauses befand. Er rannte los, stürmte ins Haus und rief nach seinem Vater.

    „Papa, du musst sofort losfahren. Der Koschel ist im Wald. Dem geht es ganz schlecht. Ihm tut das Herz weh.“ Sein Vater sprang auf. „Weißt du genau, wo er ist?“ „Ja, Papa, aber wir müssen uns beeilen. Er hat gesagt, du kennst den Falkenweg.“

    Der Förster wurde gerettet. Er kam ins Krankenhaus mit einem Schlaganfall. Nach einiger Zeit war er dann wieder im Dorf und fragte gleich nach Maximilian. Sie machten wieder eine Runde durch den Wald. Max druckste herum. „Du Koschel, ich muss die was erzählen, aber du darfst nicht lachen?“ Der Förster schaute auf den Jungen und bemerkte, wie aufgeregt er war. „Na, was hast du denn?“

    Max holte tief Luft und erzählte ihm von der Begegnung mit dem Einhorn. Der Förster schüttelte den Kopf, zu unwahrscheinlich war diese Geschichte. Andererseits hätte Max die Strecke nie in der Zeit schaffen können, denn er wusste, dass ihm doch ziemlich schnell geholfen wurde. „Erzähl mir mehr von dem Einhorn, Max.“ Und je länger der Junge redete, umso mehr wusste er, dass man sich das nicht alles ausdenken konnte. „Max, ich glaube dir. Aber lass es unser Geheimnis bleiben, denn die anderen im Dorf werden dich nicht verstehen und auslachen.“ Der Junge nickte.

    Nachts wachte Maximilian immer wieder mal auf. Eine innere Unruhe veranlasste ihn, zum Fenster zu gehen. Und er wusste nicht, ob er wachte oder träumte. Auf der Wiese stand jedes Mal das Einhorn und nickte ihm zu, ehe es wieder im Wald verschwand. Jedenfalls war sich Maximilian sicher: Einhörner gibt es noch auf der Welt, und nicht nur im Märchen.

© PM 01/2003