Daniel, der Rabe

    Manuela, kurz Manu genannt, hatte einen schwarzen Raben zum Freund. Dieser Rabe hieß Daniel. Als er noch ganz klein war, kam er in die Pflege ihrer Mutter, denn er hatte sich einen Flügel gebrochen und wäre ohne Hilfe gestorben. Alle gewöhnten sich schnell an diesen lustigen Gesellen, wenn er sich mit seinem knarrenden Kraaah zu Wort meldete. Immer dann, wenn es genau in die Situation passte, worüber dann alle lachen mussten. Als Daniel dann gesund war, sollte er sich eigentlich wieder in der freien Natur behaupten, aber er wollte nicht gehen. Er kam immer wieder zurückgeflogen, hockte draußen auf dem Fensterbrett und wartete, bis sich jemand mit ihm beschäftigte.

    Also beschloss der Familienrat eines Tages, das Daniel bleiben konnte. Manuela sollte sich um ihn kümmern. Nichts tat sie lieber als das, denn Daniel war ihr richtig ans Herz gewachsen. Noch verrückter wurde es, als er anfing, einzelne Wörter nachzusprechen. Als erstes konnte er natürlich seinen Namen sagen.

    Wenn sie mit ihm spazieren ging, hockte er oft auf ihrer Schulter, oder flog ganz in der Nähe hinter ihr her. Zum Fasching ging Manu als Hexe und nahm den Raben mit zur Faschingsfeier. Auf dieser Feier wurde auch das beste Kostüm prämiert. Dank Daniel bekam sie den ersten Preis, und ihre Freundinnen schauten natürlich etwas neidisch auf Daniel. Sie hätten auch gern so einen Raben gehabt.

    Im Frühsommer fuhr Manu öfters Fahrrad und das gefiel ihrem Raben. Zu gern hockte er auf ihrer Schulter und ließ sich den Fahrtwind um den Schnabel wehen. Seit neuestem war sein Schlagwort „komisch“. Er hatte immer die Lacher auf seiner Seite. Denn irgendwie schien er ein Gefühl dafür zu haben, seinen Wortschatz immer so einzusetzen, das die Menschen in ihren Gesprächen lachend auseinander gingen. Denn Daniel fragte natürlich nicht, er sprach drauf los, so wie ihm der Schnabel gewachsen war. Daniel war berühmt im ganzen Dorf, und jeder freute sich mit Manuela, dass sie mit dem Vogel so gut zurechtkam.

    Eines Tages, es war ihm Frühsommer und Superwetter, beschlossen Manuela und ihre Freundinnen, eine Fahrradtour über zwei Tage zu machen. Sie rüsteten sich aus wie die Pfadfinder, mit Verpflegung und einem Schlafsack, denn sie wollten in einer Scheune bei einer bekannten Familie übernachten. Und der Rabe war natürlich dabei.

    Es waren zwei schöne Tage geworden. Den ganzen Tag an der frischen Luft und die Bewegung dazu, so gut hatten die Kinder schon lange nicht mehr geschlafen. Auf dem Heimweg passierte es dann. Sie fuhren mit ziemlichem Tempo die Straße bergab, als ihnen auf ihrer Straßenseite ein Auto mit hoher Geschwindigkeit entgegenkam. Sie mussten von der Straße herunterfahren, die Böschung hinab in den Wald hinein. Alle vier Mädchen verunglückten mit ihren Rädern.

    Am schlimmsten hatte es Manuela erwischt, sie konnte den Fuß nicht mehr bewegen. Wahrscheinlich war er gebrochen. Die anderen hatten sich Schürfwunden und Prellungen zugezogen, aber ansonsten war nichts Ernsthaftes passiert. Bis auf Manu, die gar nicht laufen konnte. Was sollten sie nur machen? Alle Fahrräder waren kaputt. Sie mussten laufen, konnten aber Manuela nicht zurücklassen. Da hatte sie eine Idee. Sie rief nach Daniel, der auch sofort angeflogen kam. Er befand sich in der Luft, als der Unfall passierte.

    Er setzte sich auf ihre Schulter und Manu verzog das Gesicht. Die Schulter hatte sie sich auch geprellt, aber sie sagte nichts, denn sie war froh, dass der Rabe bei ihr blieb. Sie sagte immer wieder das Wort "„Hilfe", bis Daniel es nachsprach. „Und nun flieg‘ nach Hause und hole Hilfe“, sagte sie mit aller Deutlichkeit. Und der Rabe verstand. Er flog los, drehte noch eine Runde am Himmel und war auf einmal weg.

    Zu Hause angekommen, setzte er sich auf das Fensterbrett und klopfte an die Scheibe. Manuelas Mutter kam auch sofort und öffnete das Fenster. Irgendwie hatte sie ein Gefühl, das etwas nicht stimmte. Daniel krächste:

    “Hilfe – komisch“ und „Manu Hilfe.“ Und flog in die Richtung los, aus der er gekommen war. Er kam zurück und schaute die Mutter schräg an und krächste wieder: „Komisch – Hilfe – Manu“. Da verstand die Mutter. Es musste etwas Schlimmes passiert sein. Sie wusste ungefähr, wo sich die Mädels befinden mussten. Sie rief die Polizei an und fuhr selbst los. Bald war sie am Unfallort und die Polizei war auch schon da.

    Eines der Mädchen hatte an der Straße gewartet. Die Mutter rannte die Böschung hinunter zu Manuela und schloss sie in die Arme. Auf der Hinfahrt hatte sie sich die schlimmsten Gedanken gemacht, was alles hätte passiert sein können. Dann kam auch schon der Krankenwagen und brachte die Mädchen ins Krankenhaus. Manu war nach 4 Wochen wieder genesen und sprang herum, wie die anderen Kinder. Den Autofahrer hat man nicht gefunden.

    Manuelas Mutter schaute in den Himmel, wo der Rabe Daniel seine Kreise zog. Ihr wurde warm ums Herz. Dank diesem Vogel konnte den Mädchen so schnell geholfen werden.

    Raben können sehr alt werden. Er lebte noch viele Jahre bei Manuela. Sie war glücklich, so einen lieben Gefährten zu haben, der ihr einmal sehr geholfen hatte.

© PM 06/2004